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Mittwoch, 12. September 2012

Unendliches Leid in deutschen Pflegeheimen


Unendliches Leid in deutschen Pflegeheimen


Manchmal beginnt eine Recherche unseres Investigativteams ganz klein – und entpuppt sich dann als so großer Skandal, dass sich damit ein ganzes Buch füllen lässt. So war es bei unserer Reporterin Anette Dowideit: Sie begann vor gut zwei Jahren mit ersten Recherchen zum Thema Pflege. An diesem Mittwoch (12. September) erscheint nun ihr Buch “Endstation Altenheim – Alltag und Missstände in der deutschen Pflege”.
Alles begann mit dem in einem Halbsatz hingeworfenen Hinweis eines Heimleiters. Der sagte, es gebe in seinem Landkreis eine große private Altenheimkette, in der es nicht mit rechten Dingen zugehe: Vor Kontrollbesuchen des MDK würden Pfleger von anderen Heimen der Kette herangekarrt, die Pfleger müssten stets im Laufschritt über die Gänge hetzen, die gesetzlich vorgegebenen Personalschlüssel seien stets unterschritten.
Die  Recherche förderte dann zweierei ans Tageslicht: Offenbar fanden diese Praktiken in der Heimkette flächendeckend statt, und – noch schlimmer – das Geschäftsmodell des Unternehmens war nur die Spitze des Eisbergs all der Missstände, die sich in deutschen Pflegeheimen täglich abspielen. Schätzungsweise eine Viertelmillion Demenzkranker wird bundesweit mit Psychopharmaka ruhiggestellt, wie eine weitere monatelange Recherche Anette Dowideits  ergab. Rund 40.000 Menschen müssen in deutschen Pflegeheimen Hunger und Durst leiden, weil das Personal für menschengerechte Pflege fehlt. Hinter diesen Zahlen steckt unendliches Leid von Menschen, die sich nicht mehr wehren können und zu den schwächsten in unserer Gesellschaft gehören.
Am Ende der Recherchen steht die Erkenntnis, dass die in den Medien immer wiederkehrenden “Pflegeskandale” keine Einzelfälle sind, sondern zum großen Teil von Fehlkonstruktionen im deutschen Pflegesystem verursacht werden.
Hier ein Auszug aus Anette Dowideits Buch, der an diesem Sonntag in der “Welt am Sonntag” veröffentlicht wurde. Eins steht schon jetzt fest: Das war nicht der Endpunkt ihrer Recherchen.
Frau Goldmann, die in einem kleinen Ort im hessischen Taunus lebt, brachte ihren Mann vor wenigen Monaten in einem katholischen Altenpflegeheim unter. Zunächst erschien ihr dort alles normal – natürlich sei das Essen nicht besonders gut dort, sagt sie, man könne eben auch nicht viel erwarten von einem Heim.
Und besonders viel Personal gebe es auch nicht, man müsse immer lange auf eine Pflegerin warten, wenn man geklingelt habe. Nachts, sagt ihr Mann, zögen manche Pflegerinnen einfach den Stecker aus der Klingelanlage, damit sie nicht zu häufig gestört würden.
Stutzig wurden die Goldmanns allerdings, als die alte Dame vor ein paar Monaten erstmals Rechnungen für die an ihrem Mann geleistete Fußpflege erhielt. “Ich würde die Rechnungen ja zahlen”, sagt Frau Goldmann mit bitterem Humor in der Stimme, “wenn mein Mann Füße hätte.” Beide Beine wurden ihm vor Jahren unterhalb des Hüftgelenks amputiert.
Lange Liste der Missstände
In der deutschen Altenpflegebranche ist die Liste der Missstände lang – und die der Möglichkeiten für Anbieter, auf diesem unübersichtlichen Markt zu tricksen, ist es ebenso: So mancher Heimbetreiber erzielt Gewinne, indem er am Personal spart und weniger ausgebildete Pfleger einstellt, als ihm Pflegekassen und Heimbewohner bezahlen. Dabei helfen ruhigstellende Medikamente.
Laut einer aktuellen Schätzung der Universität Bremen werden bundesweit rund 240.000 Demenzkranke mit Psychopharmaka außer Gefecht gesetzt. Nicht um deren Leiden zu mindern, sondern nur, um dem Pflegepersonal die Arbeit zu erleichtern.
Gespart wird häufig auch an der Qualität des Essens im Heim. Wie viel Geld ein Heimbetreiber pro Tag und Bewohner für Essen und Trinken der Bewohner ausgeben kann, wird in den regelmäßig stattfindenden Pflegesatzverhandlungen mit Krankenkassen und kommunalen Vertretern festgelegt.
Ein Peilwert, der häufig als bundesweiter, realistischer Durchschnitt genannt wird, sind fünf Euro – eine Summe, für die man gerade mal eine Mahlzeit bei McDonald’s bekommt. Davon soll ein Mensch einen ganzen Tag lang angemessen ernährt werden können, soll Frühstück, Mittagessen, Kaffee und Kuchen und Abendbrot bekommen. Für fünf Euro bekommt man nicht viel. Dennoch müssen die Heime mit diesem Geld auskommen.
Aus fünf Euro Gewinn erzielen
Schwierig wird es, wenn die Einrichtungen unter einem überdurchschnittlich hohen finanziellen Druck stehen.
Einige deutsche Heimketten gehören Eigentümern, die trotz der knappen Budgetvorgaben durch die Kassen noch hohe Gewinne aus den Einrichtungen ziehen wollen. Das aber ist kaum möglich, ohne dass spürbar an der Qualität gespart wird. Beim Essen bedeutet es konkret, dass die Einrichtungen sogar noch weniger als fünf Euro pro Tag und Person ausgeben dürfen – damit die Differenzsumme als Gewinn für den Betreiber übrig bleibt.
Der ehemalige Qualitätsmanager einer großen privaten Pflegekette etwa berichtet, dass zu seiner Zeit im Unternehmen die Vorgabe durch die Geschäftsführung galt, pro Person nicht mehr als drei Euro pro Tag auszugeben. Zwei Euro Reingewinn bei rund 8000 Heimbewohnern, das macht 16.000 Euro pro Tag, fast sechs Millionen Euro pro Jahr. Praktisch umgesetzt hieß dies, dass beim Frühstück die Pflegekräfte, die die Teller anrichteten, nicht mehr als eine Scheibe Wurst pro Bewohner ausgeben sollten und die Salami manchmal schon verdächtig roch.
Ein wesentlicher Sparfaktor sei jedoch das Küchenpersonal, sagt der Aussteiger: “Bei uns wurden möglichst viele halb fertige Komponenten eingekauft, das heißt zum Beispiel angebratene Frikadellen, die man nur noch in den Konvektomaten stecken musste.” Ein Konvektomat ist ein spezieller Heißluftofen, der häufig in Großküchen zum Einsatz kommt und besonders in Altenheimküchen weit verbreitet ist.
Durch den Einsatz der vorgegarten Nahrungsmittel, erklärt der Manager, habe man wenig Personal in der Küche gebraucht, höchstens drei bis vier Angestellte pro Einrichtung. Er berichtet, ein von der Geschäftsführung eingesetztes Team sei von einem Heim zum nächsten unterwegs gewesen, um die “Effizienz” der Küche zu überprüfen. “Das hieß auch, dass sie die Resteeimer kontrolliert haben. Wenn die zu voll waren, wurde sofort an den Rationen gekappt.”
Gewinne durch Outsourcing
In vielen Heimketten sind die Küchenteams heutzutage nicht mehr direkt beim Heim angestellt, sondern bei Tochtergesellschaften, die jedoch häufig zum Heimkonzern gehören. Dasselbe gilt häufig für die Putzfrauen und für die Angestellten in den Wäschereien. Dadurch erreichen die Geschäftsführer zweierlei: Zum einen sind die einzelnen “Firmen” innerhalb eines Heims so klein, dass sich dort keine Betriebsräte bilden können.
Einige kirchliche Einrichtungen sparen auf diesem Weg auch an den Löhnen. Denn ihren eigenen Angestellten müssen sie Tariflöhne zahlen, die sich an den Löhnen und Gehältern des öffentlichen Dienstes orientieren – die Kirchen nennen dies den “dritten Weg”. Küchen- und Reinigungspersonal, das jedoch in eine Tochterfirma outgesourct wird, unterliegt diesen Vorgaben nicht.
Die Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di prangert diese Auslagerungstaktik seit Jahren an. Das Einsparpotenzial für kirchliche Träger durch Outsourcing an Drittfirmen ist groß. Laut offizieller Pflegestatistik des Bundes war im Jahr 2009 etwa ein Drittel aller insgesamt 621.000 Beschäftigten in deutschen Pflegeheimen nicht in der Pflege beschäftigt, sondern in Küche, Reinigung, Verwaltung oder Haustechnik.
Pflegesätze wurden zwölf Jahre nicht erhöht
Auch der Präsident des deutschen Caritasverbandes Peter Neher kritisiert ein solches Vorgehen einiger seiner Mitglieder. “Das ist nicht legitim, es schadet unserer Glaubwürdigkeit”, so Neher, der jedoch gleichzeitig darauf hinweist, dass einige der Träger innerhalb seines Verbandes sich durch finanzielle Zwänge – etwa die steigenden regionalen Unterschiede in den Vergütungssätzen der Kassen – hierzu gezwungen sähen.
In Niedersachsen etwa wurden über zwölf Jahre die Pflegesätze der Kassen nicht erhöht. Das lag daran, dass dort der Anteil privater Träger, die vergleichsweise niedrige Löhne zahlen, an allen Pflegeheimanbietern besonders groß ist. Fast zwei von drei Altenheimen werden in Niedersachsen, ähnlich wie in Schleswig-Holstein, von privaten Anbietern betrieben – weit mehr als im bundesweiten Durchschnitt, in dem eines von drei Heimen einer Privatfirma gehört.
Diese Marktaufteilung hat allerdings spürbare Folgen für alle Anbieter: Da sich die Pflegekassen an diesen Durchschnittskosten bei ihren Bemessungen orientieren, schauten die teureren und weniger wettbewerbsfähigen kirchlichen Heime in die Röhre – und reagierten entsprechend: So wurde 2009 der katholische Heimbetreiber Caritas-Seniorendienste Hannover, zu dem fünf Seniorenheime und eine ambulante Pflegestation gehörten, an das evangelische Johannesstift aus Berlin verkauft.
Für die Mitarbeiter bedeutete das spürbare Einschnitte. Denn der dortige Tarifvertrag sah vor, dass bei wirtschaftlichen Schwierigkeiten Lohnabsenkungen um bis zu 13 Prozent möglich seien – und genau das verlangte der neue Eigentümer als Voraussetzung, um das Unternehmen zu kaufen und so vor der Insolvenz zu bewahren.
Pudding aus Wasser
Wenn Heime ihr Küchenpersonal an Drittfirmen auslagern, kann das auch noch andere Vorteile haben. Zuweilen untersteht die Küche dann nicht mehr den Weisungen des Heimleiters. Ein ehemaliger Heimleiter einer privaten Heimkette berichtet, er habe der Küchenchefin in seiner Einrichtung keine Anweisungen geben dürfen, mehr zu würzen oder mehr Varianz in den Speiseplan zu bringen. “Ich musste mich jedes Mal an die Geschäftsführung in einer anderen Stadt wenden, wenn ich in unserer Küche etwas ändern wollte.”
Es sind aber auch die kleinen Stellschrauben, die einen entscheidenden Beitrag zum Konzerngewinn machen: Zweimal pro Woche, berichtet der ehemalige Qualitätsmanager, gab es in den Einrichtungen Pudding zum Nachtisch. Dieser wurde allerdings nicht mit Milch gekocht, sondern mit Wasser. “Das allein machte pro Tag und Einrichtung eine Ersparnis von sechs Euro aus. Rechnen Sie das auf 50 Häuser hoch, 52 Wochen und zweimal pro Woche: Das macht über 30.000 Euro Reingewinn.”
Viele Pfleger berichten auch von ihren Heimen von ähnlichen Sparmaßnahmen: Zum Abendessen gebe es fast immer billige Aufschnittwurst, nur selten Käse, da der ein paar Cent teurer sei. Gespart werde auch am Zucker. Grießbrei oder Milchreis seien kaum gesüßt und wenig genießbar.
Keine Zeit zum Anreichen
Problematisch ist jedoch nicht nur, was auf den Tisch kommt, sondern auch, ob die Senioren überhaupt in der Lage sind, es zu essen. Brigitte Bührlen von der Münchener Selbsthilfegruppe für die Angehörigen von Pflegebedürftigen, dem Forum Pflege aktuell, erklärt, eine große Zahl von Pflegebedürftigen könne nicht selbstständig essen. Dafür gebe es diverse Ursachen, die von Zahnproblemen bis hin zu Depressionen reichen können. Auch die immer größer werdende Gruppe von Parkinson- und Alzheimerpatienten braucht häufig Hilfe beim Essen und Trinken.
In vielen stationären Pflegeeinrichtungen berichten Pfleger und Angehörige von Patienten, dass den Angestellten die Zeit fehlt, das Essen anzureichen. Rund 36.000 Menschen müssen heute laut aktuellem Stand des bundesweiten MDK-Qualitätsberichts Hunger oder Durst leiden, weil niemand Zeit hat, ihnen beim Essen oder Trinken zu helfen. Aus Zeitnot würden häufig Teller lediglich ans Bett oder an den Tisch gestellt und später wieder unberührt abgeräumt.
In solchen Fällen bleibe den Pflegern oft gerade mal Zeit für einen entsprechenden Vermerk in der Krankendokumentation: “Bewohner hatte keinen Appetit.” Kein Wunder, dass die Senioren in manchen Pflegeeinrichtungen extrem schnell an Gewicht verlieren, wie aus den internen Prüfberichten des MDK immer wieder hervorgeht.
Besonders gefährlich wird es für die Heimbewohner dann, wenn den Pflegern sogar die Zeit fehlt, ihnen beim Trinken zu helfen, vor allem im Sommer bei hohen Temperaturen. Dann droht den Bewohnern schnell Dehydrierung. Selbst das scheint jedoch weit verbreitet zu sein. Ein Sanitäter aus Nordrhein-Westfalen berichtet, dass er bei Notfallpatienten, die er aus Altenheimen abholt und in die Klinik bringt, mittlerweile routinemäßig eine Flüssigkeitsinfusion anlegt.
Kein Wunder, sagt Brigitte Bührlen, die ihre mittlerweile verstorbene demenzkranke Mutter sieben Jahre zu Hause und 13 Jahre im Heim begleitete: “Getränke werden zwar in der Regel hingestellt, das Trinken selbst jedoch häufig nicht kontrolliert.” Bührlen glaubt, ohne ihre tägliche Hilfe beim Essen und Trinken wäre ihre Mutter vermutlich schon Jahre früher gestorben.
Die 24-Stunden-Windel
Mit dem Anteil der Demenzkranken, die in deutschen Pflegeheimen leben, steigt auch die Zahl derer, die inkontinent sind. Experten schätzen, dass heute in vielen Einrichtungen bereits 60 bis 70 Prozent aller Heimbewohner nicht mehr selbstständig zur Toilette gehen können und auf Inkontinenzeinlagen angewiesen sind. Ein Inkontinenzpatient kostet eine Kasse etwa 35 bis 40 Euro zusätzlich pro Monat.
Natürlich kostet auch die Versorgung von Inkontinenzpatienten die Pflegenden viel Zeit und Nerven: Windeln wechseln, den Po sauber machen, verschmierte Exkremente wegwischen. Mancherorts wissen sie sich offenbar zu helfen. Eine Angehörige, deren demenzkranker Ehemann bis vor wenigen Jahren in mehreren Heimen in Niedersachsen lebte, berichtet, dass er in einer der Einrichtungen anstatt eines Schlafanzugs Papier-Overalls tragen musste, die er nicht selbst öffnen konnte. Das habe dazu gedient, dass er sich nach dem Stuhlgang nicht die volle Windel, die ja nun stank und am Körper rieb, selbst ausziehen konnte.
Ohne die Papier-Overalls, habe ihr eine Pflegerin erklärt, käme es immer wieder vor, dass die Exkremente am Morgen im ganzen Bett verschmiert seien, was den Pflegekräften im stressigen Frühdienst viel zusätzliche Arbeit gemacht hätte. Immer häufiger entlädt sich der Stress der Pflegenden auf den Alten, bis hin zur körperlichen Gewalt. Der MDK-Dachverband MDS in Essen bezeichnete die Gewalt gegen pflegebedürftige Menschen vor Kurzem in einer Pressemitteilung als “Problem von erheblichem Ausmaß”.
Konkrete Statistiken darüber, wie viele Gepflegte Opfer von Gewalt werden, existieren allerdings nicht, was daran liegt, dass die Misshandlungen hinter geschlossenen Türen stattfinden – und daran, dass viele der Opfer sich nicht mehr mitteilen können.
Wie im Gefängnis
Zuweilen machen Pflegeheime mit renitenten Bewohnern kurzen Prozess: Wer zu viel wegläuft oder andere Bewohner belästigt, wird in manchen Einrichtungen mit Gurten an Bett oder Rollstuhl festgebunden. “Fixierung” heißt das in der Fachsprache oder auch “freiheitseinschränkende Maßnahme” (FEM). Rechtlich gesehen ist dafür stets eine richterliche Anordnung nötig.
In der Praxis gibt es die aber oft nicht. Eine andere Art der in Pflegeeinrichtungen weit verbreiteten, weil weniger auffälligen Fixierung sind Rollstühle mit angeschraubten Tabletthaltern. Einmal vom Pflegepersonal geschlossen, haben sie denselben Effekt wie Festschnallgurte: Der alte Mensch kann nicht mehr allein aufstehen. Solche Maßnahmen klingen wie Schauermärchen aus dem vergangenen Jahrhundert. Tatsächlich sind sie in deutschen Pflegeheimen heute weit verbreitet.
Der im Frühjahr 2012 vorgestellte Qualitätsbericht zur Pflege in Deutschland des MDK kam zu dem Ergebnis, dass jeder fünfte Heimbewohner, insgesamt rund 140.000 Menschen, mit Gittern, Gurten oder abgeschlossenen Türen ihrer Freiheit beraubt werden – mehr, als es Häftlinge in deutschen Gefängnissen gibt, wie der Vorsitzende der Deutschen Hospizstiftung, Eugen Brysch, bei der Vorstellung der Zahlen anmerkte.
Wundliegen wird zur Volkskrankheit
Wo Bewohner stundenlang in fester Position an den Rollstuhl oder das Bett fixiert sind, muss es nicht wundern, dass der Dekubitus, also wund gelegene Stellen, quasi zur Volkskrankheit avanciert: Der Qualitätsbericht der Kassenprüfer kommt zu dem Ergebnis, dass bei knapp der Hälfte aller Heimbewohner eine Gefahr zum Wundliegen besteht.
Laut dem aktuellen MDK-Bericht soll heute bei jedem zehnten Fixierten die richterliche Anordnung fehlen. Das wären 14.000 Menschen, die ohne rechtliche Grundlage ihrer Freiheit beraubt werden – so viele wie die Bewohner einer Kleinstadt.
Wer eine solche rechtswidrige Fixierung feststellt, zum Beispiel bei der eigenen Mutter, kann dagegen einen Strafantrag stellen. Allerdings, sagt der Kölner Rechtsanwalt und Experte für Betreuungsrecht Armin Viersbach, gingen die ermittelnden Staatsanwälte solchen Fällen oft “leider nicht mit großer Akribie und großem Elan nach”, was an der Vielzahl von Strafanträgen liege, mit denen sich die Staatsdiener tagtäglich befassen müssten. Im Klartext: Die Risiken für die Verantwortlichen in den Heimen sind, selbst im Falle einer Anzeige, zu vernachlässigen.
Natürlich meinen die verantwortlichen Pfleger es gut: Die Senioren sollen vor Stürzen bewahrt werden, vor Hüftfrakturen oder dem gefürchteten Oberschenkelhalsbruch, den viele in diesem Alter nicht überleben. Das Bewusstsein dafür, dass solche nicht genehmigten Fixierungen rechtswidrig sind, fehlt den Verantwortlichen häufig.
Heimleiter handeln aus Selbstschutz
Manche Heimleiter betreiben die Fixierungspraxis auch ganz einfach aus Selbstschutz: Zieht sich nämlich ein Heimbewohner einen komplizierten Bruch zu, kommt es zuweilen zu Regressforderungen der Krankenkassen an die Heime. Denn die Kassen müssen in diesem Fall die teure Krankenhausbehandlung zahlen.
Eine Fixierung nimmt den alten Menschen vieles an Mobilität. Untersuchungen haben ergeben, dass bereits über wenige Wochen angewandte Fixierungen zu Muskelabbau führen. Inkontinenz wird begünstigt, ebenso das Entstehen von Druckgeschwüren – was wiederum die sozialen Sicherungssysteme belastet. Die Behandlung eines Dekubitusgeschwürs im Krankenhaus kann bis zu 25.000 Euro kosten. Und: Werden solche Fixierungen nicht richtig angewendet, können sie selbst zur Gefahr für die Betroffenen werden.
Laut einem vor Kurzem in der “Frankfurter Allgemeinen Zeitung” veröffentlichten Bericht gibt es pro Jahr etwa 30 Todesfälle in deutschen Pflegeheimen durch “falsche Fixierungen”: Wenn der Gurt nicht sachgemäß befestigt ist, Seitenriemen vergessen werden oder das Bettgitter nicht hochgeklappt wird, kann man sich versehentlich so aus dem Gurt herauswinden und mit dem Hals hineingeraten, dass man sich selbst stranguliert.
Mittlerweile gibt es in stationären Pflegeeinrichtungen jedoch auch subtilere Formen der Freiheitseinschränkung, wie unabhängige Branchenberater berichten. Eine Variante ist demnach die Architektur des Heims: Einige Pflegeheimbetreiber planen ihre neuen Häuser als quadratische Wohnkomplexe, die rund um Innenhöfe gebaut sind. Auf diese Weise können die Bewohner das Haus nur verlassen, wenn sie den zentralen Ein- und Ausgang nehmen, an dem in der Regel jemand am Empfang sitzt. Manche Heimleiter erklären offen, dass sie durch diese Architektur weniger Personal brauchten.

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